Kleiner Mann ganz groß

Ich denke mit Freude, aber auch ein wenig Wehmut, an meine Zeit als kleiner „Neckarschleimer“ zurück, als wir „Sume“, wie uns die Einheimischen nannten, auf der Neckarwiese Fußball spielten, im Neckar badeten (das konnte man in den fünfziger Jahren noch) oder im Wald des Heiligenbergs Cowboy und Indianer spielten (die hießen eben damals so und keiner regte sich darüber auf, noch nicht einmal die „indigene Bevölkerung“). Kein Smartphone oder sonstiges digitales Unterhaltungsgerät störte unseren Elan, unsere Begeisterung und vor allen Dingen unsere unerschöpfliche Phantasie.

Eines Tages kam einer meiner Spielkameraden auf die geniale Idee, die Abenteuer des Dschungelkönigs Tarzan, den wir in zahllosen Kinofilmen bewunderten, wirklichkeitstreu nachzuspielen, leider ohne seine Freundin „Jane“ und dem Affen „Cheeta“. Wir suchten uns Bäume aus, deren Äste wir Winzlinge bequem erreichen konnten und schon ging sie los, die wilde Tarzan-Tour auf dem Heiligenberg. Mit der Zeit wurden wir immer verwegener und risikobereiter, kletterten auf Bäume, um uns an Äste zu hängen und stießen Tarzanschreie aus, welche die letzten verängstigten Vögel verscheuchten. Obwohl ich ein richtiges Leichtgewicht war, dachte einer der Bäume nicht im Ernst daran, diesen Mini-Tarzan, der die friedliche Ruhe des Waldes mit seinem Gejohle penetrant störte, weiterhin bei seinem wilden Treiben geduldig zu ertragen (im wahrsten Sinne des Wortes). Er beschloss, dieses lästige Bündel loszuwerden, indem er einem seiner Äste, an dem ich gerade hing, den Befehl erteilte, sich selbstlos für eine gute Sache zu opfern und märtyrerhaft einfach in der Mitte zusammenzubrechen. Die Anziehungskraft der Erde besorgte den Rest und ich fand mich plötzlich nach einer mehr als unsanften Landung auf dem mit Wurzeln übersäten Waldboden wieder. In meinem linken Arm machte sich unangenehm ein ziemlich starker und stechender Schmerz bemerkbar. Mein erster Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, wies mich eindringlich darauf hin, dass Indianer keinen Schmerz kennen würden. Leider war ich jedoch dummer Weise in die Rolle des Dschungelkönigs geschlüpft. Hätten wir lieber Indianer und Cowboy gespielt, die schwangen sich schließlich nicht von Ast zu Ast, sondern blieben im wahrsten Sinn des Wortes bodenständig. Bei meinem nächsten Gedanken bedauerte ich sehr, dass es nicht den rechten Arm erwischt hatte, denn dann wäre ich eine Zeitlang von den lästigen Hausaufgaben befreit gewesen.

Zu Hause beim Abendessen wurden meine Schmerzen immer heftiger, jedoch wollte ich mir nichts anmerken lassen, da meine Eltern kein besonderes Verständnis für das spektakuläre und gefährliche Schwingen von Ast zu Ast hatten. Aber meine Mutter wäre nicht die beste Mutter aller Mütter gewesen, wenn sie nicht mit detektivischem Spürsinn bemerkt hätte, dass etwas mit ihrem blassen und ungewöhnlich wortkargen Sprössling nicht in Ordnung war. Nach einem intensiven Kreuzverhör, das jedem Star-Staatsanwalt zur Ehre gereicht hätte, entlockte sie mir Zug um Zug die Einzelheiten meines missglückten Abenteuers am Heiligenberg. Zu meinem großen Erstaunen ließ sie keine Schimpfkanonade vom Stapel, zog ihren Mantel an und forderte mich auf, ohne Widerspruch mit ihr ins Krankenhaus zu folgen. Das altehrwürdige Gebäude der Universität-Chirurgie war nur eine Viertelstunde Fußweg von unserer Wohnung entfernt. Aber schon damals musste man die stoische Ruhe eines tibetanischen Bettelmönchs, viel Proviant und diverse Leseutensilien mitbringen, um die endlos lange Wartezeiten ohne größeren seelischen Schaden zu überstehen. Die Aufnahme- und Behandlungsräume waren so überfüllt, dass wie eine geraume Zeit in einer Ecke stehen mussten – wie abgestellt und einfach vergessen. Eine barmherzige Seele in blütenweißer Schwesterntracht verhalf uns in einem Anflug von Mitleid und christlicher Nächstenliebe zu einer Sitzgelegenheit in Form einer kleinen Bank auf dem Gang. Auch im Sitzen verging jedoch eine Stunde nach der anderen in quälender Langeweile – für einen 12jährigen wie ganze Jahre. Trotz meiner stärker werdenden Schmerzen dämmerte ich immer wieder vor mich hin und träumte von Bäumen, welche sich in bestialische Ungeheuer verwandelten und mich mit ihren Ästen zu erwürgen versuchten. Plötzlich wurde mein Kampf mit den Dämonen jäh unterbrochen, denn mit einem lauten Knall ging eine Tür des Ganges auf und eine Schar von weiß gekleideten Wesen ergoss sich, begleitet von einem unwirklich grellem und geheimnisvollem Licht, in den Flur. Angeführt wurde die seltsame Kohorte von einem kleinen Männlein (die großen Anführer waren stets klein von Wuchs, siehe beispielsweise Napoleon). Die seltsame Prozession hatte uns staunendes Häuflein Elend schon fast passiert, als der kleine Anführer ruckartig anhielt (neusprachlich „in die Eisen trat“). Nun geschah etwas, was ich wahrscheinlich bis an mein Lebensende nicht vergessen werde: Wie in einem schlechten Slapstick-Film oder bei einer Massenkarambolage auf der Autobahn prallte die ganze Pfleger-, Studenten-und Ärzteschar beim unvorhersehbaren Stopp aufeinander und bildeten ein hilfloses, chaotisches Knäuel von weißen Kitteln. Unbeirrt des Tumultes hinter seinem Rücken steuerte das kleine Männlein auf uns zu und fragte meine Mutter freundlich, wie lange wir denn hier auf dem Armesünder-Bänkchen schon ausharren würden. Ich weiß nicht mehr genau, was meine Mutter ihm antwortete, denn ich beobachtete mit großem Interesse, wie der verstörte Begleitschutz versuchte, sich mühsam wieder in die strenge reglementierte Marsch-Rangordnung einzuordnen und die weißen Kittel zurechtzurücken. Das Männlein verabschiedete sich mit der Andeutung eines Lächeln von uns und zischte einem der in der Nähe stehenden Ärzte einen gebieterischen Befehl zu. Kurze Zeit nach diesem wundersamen Ereignis verließen wir die Chirurgie, meine Mutter mit einem versonnen Lächeln und ich mit einem eingegipsten Arm, welchen der behandelnde Arzt mit dem Namenszug „Tarzan“ verziert hatte.

Erst später erfuhr ich, dass dieses kleine Männlein der berühmte Professor Karl Heinrich Bauer war, seines Zeichens begnadeter Chirurg und Leiter der Chirurgischen Klinik der Heidelberger Universität. 

Optimaler Dreiklang: Neckar - Neckarwiese - Heiligenberg
So sah damals die Chirurgie aus
Karl Heinrich Bauer, geboren am 26. September 1890 in Schwärzdorf, Oberfranken; gestorben am 7. Juli 1978 in Heidelberg

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