Abgehakt

1960 verkündete unser Klassenlehrer lakonisch, dass in den nächsten Tagen im damaligen Kino Capitol in der Bergheimer Straße ein Dokumentarfilm für Schülerinnen und Schüler ab einem bestimmten Alter zu besuchen sei. Über Inhalt und Art des Filmes wurde kein Wort verloren. Ganze Scharen von Jugendlichen machten sich an diesem Tag frohgelaunt auf den Weg nach Bergheim und freuten sich auf „irgendeinen“ Naturfilm, wie er des öfteren auch in der Schule gezeigt wurde. Es kam auch nicht gerade ungelegen, dass uns quasi ein „schulfreier Tag“ beschert wurde. Frohen Mutes und entspannt strebten wir dem damals größtem Filmtheater in Heidelberg entgegen. Ich ergatterte mir einen Art Logenplatz auf dem geräumigen Balkon des Kinos mit Blick auf die riesige Leinwand, aber auch auf die brodelnde und fröhlich lärmende Menge der Schülerinnen und Schüler.

Doch sobald das Licht erloschen war, wisch die gute Laune sehr schnell Entsetzen und Grauen. Mädchen bekamen Schreikrämpfe und selbst die abgebrühtesten Jungen hielten sich entsetzt die Augen zu. Auf der Leinwand wechselten sich apokalyptische Bombenangriffe auf Großstädte, unfassbare Verwüstungen, kilometerlange Schlangen von Flüchtlingen sowie übereinander gestapelte Leichen in den befreiten Konzentrationslagern in rascher Folge ab. Bilder, welche die meisten von uns ohne jede Vorbereitung nicht fassen, geschweige denn verstehen konnten, die aber unauslöschlich im Gedächtnis geblieben sind. Obwohl mein Vater oft mit mir über die unbeschreiblichen Gräueltaten des Naziregimes gesprochen hatte, trafen die Bilder auch mich völlig unerwartet. Sie hatten sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt.

Am nächsten Schultag warteten wir auf Erklärungen und Hilfestellungen unseres Lehrers. Sein einziger Kommentar bestand in dem Satz „Da kommen wir später darauf zurück…“. In meiner Schulzeit kam kein Lehrer mehr darauf zurück. Schließlich war das Thema ja nun im Lernzielkatalog „abgehakt“.

Capitol Kino mit Balkon

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