Eine liebe Freundin und Schwester im Geiste schilderte mir unlängst, wie sie den roten Faden in ihrem bisherigen Leben entdeckte und analysierte. Ich war so gefesselt und beeindruckt von ihren Gedanken und klugen Erkenntnissen, dass ich Ihr spontan folgende Zeilen schrieb:
Liebe Schwester,
ich kenne nicht viele Menschen, wahrscheinlich noch nicht einmal eine Handvoll, die ihr bisheriges Leben mit zwei Worten zusammenfassen können. Du hast es geschafft: NOCH NICHT!
So eine analytische, ehrliche und schonungslose Selbsterforschung sucht ihresgleichen. Viele Menschen würden einen Roman schreiben, um den berühmten roten Faden in ihrem Leben zu beschreiben und Du schaffst es, Deine Seele mit neun Buchstaben des Alphabets von Innen nach außen zu kehren.
So sehr ich Deinen roter Faden klar und deutlich vor Augen habe, so undeutlich und verschwommen sehe ich bei mir in weiter Ferne höchstens eine winzige rötlich schimmernde Faser. Mehr nicht. Vielleicht noch nicht, denn Du hast in mir den Roten-Faden-Jäger geweckt. Vielleicht habe ich mich um diese kleine Faser noch nicht gekümmert, weil sie mir gar nicht bewusst war. Vielleicht habe ich gar keinen richtigen roten Faden, der sich durch mein Leben zieht, sondern eine ungeordnete und wechselnde Verknüpfung von farblosen Fusseln, die je nach Stimmungen und Gefühlen hin und her flattern und sich zufällig zu Schnüren und Bindfäden vereinen? Nicht so klar strukturiert wie bei Dir, einer liebenswerten, musischen Wissenschaftlerin.
Inspiriert von Deinen klugen Worte und Lebensweisheiten, werde ich mich auf die Suche begeben, wie Indiana Jones, der Jäger des verlorenen Schatzes.
Es kann ein sehr langer Weg werden,
es kann sein, dass mein roter Faden sich vor mir versteckt,
es kann sein, dass ich erschrecken werde, wenn ich ihn finde,
es kann sein, dass ich ihn gar nicht finden will,
es kann sein, dass ich plötzlich über ihn stolpere,
es kann sein, dass es ihn gar nicht gibt,
es kann sein, dass ich ihn nicht finden, sondern erfinden werde.
Du siehst, der kleine farblose Fussel hat bisher höchstens den Spitznamen „KANN SEIN“ verdient.
Wenn ich meinen geheimnisvollen, verborgenen, schüchternen roten Faden jemals entdecken sollte, werde ich Dich daran teilhaben lassen, welche Geheimnisse oder Banalitäten er mit sich führt und warum er sich nie in mein Bewusstsein drängte.
Dir, liebe Schwester, danke ich von ganzen Herzen, dass Du mich auf die erfolgreiche Reise Deiner Suche mitgenommen hast. Das ist für mich von großem Wert.
Du kannst auf Deinen roten Faden stolz sein und er auf Dich.
