Ich bin nicht gerne in die Schule gegangen, zumal meine nur sehr oberflächlich entnazifizierten Lehrer mir das Leben schwermachten und die Prügelstrafe noch nicht abgeschafft war. Sogar Pfarrer und Kapläne zogen uns an den Haaren aus den Schulbänken hoch und bearbeiteten unsere Hinterteile mit Rohrstöcken, wenn sie den sehr subjektiven Eindruck hatten, wir seien nicht richtig bei der Sache gewesen. Ich vermutete, dass sie an den Misshandlungen zunehmend Gefallen fanden. Auf dem Schulhof mussten wir wie in sibirischen Gefangenenlagern in der großen Pause nur im Kreis herumlaufen – Buben und Mädchen natürlich getrennt. Ich dachte mir, dass die Schule wirklich nichts Gutes sein könne, wenn man den Lehrstoffteilweise mit Gewalt „eingeflößt“ bekomme. Die Devise der werten Lehrerschaft lautete „Ein gesunder Geist in einem Körper mit blauen Flecken“.Vertreter der verschiedensten Schulen und ich schlossen nie richtig Freundschaft.
Das Verhältnis hatte sich im Laufe der Jahre gewiss nicht wesentlich gebessert, denn die seelischen, nicht so sehr die körperlichen Wunden, waren zu tief. Das Gefühl der hilflosen Demütigung und der stillen Wut vor der Klasse misshandelt zu werden, hat mich während meiner glorreichen Schulzeit immer wieder bewusst und unbewusst heimgesucht. Hinzu kam noch, dass ich mich mehr für Fußball als für mathematische Lehrsätze oder Jahreszahlen von irgendwelchen lang verstorbenen und mehr oder weniger berühmten Monarchen zu merken.
Der absolute negative Tiefpunkt war aber dann in der Adventszeit des Jahres 1953 erreicht. Unser Klassenlehrer wollte mit uns acht- bis neunjährigen Laiendarstellern ein Krippenspiel einstudieren und es kurz vor Weihnachten den stolzen Eltern präsentieren. Ich bekam die Rolle des Erzengels Ezekiel zugewiesen. Sehr bald merkte ich, dass dieser Engel viel zu sagen hatte und entsprechend umfangreich waren seine Dialoge. Ein himmlisches Wesen, das scheinbar froh war, statt immerwährend zu frohlocken, Botschaften verschiedenster Couleur unter die irdischen Zuhörerschar zu bringen. Mit Feuereifer lernte ich die angekreuzten Textstellen zu Hause in meinem stillen Kämmerlein.Mein Vater zeigte mir dramaturgische Hintergründe und Feinheiten der Persönlichkeit des Erzengels auf. Ezekiel und ich waren schließlich zu einer himmlischen Einheit verschmolzen. Meine Mutter befürchtete schon, dass ich versuchen würde davonzufliegen, denn ich schwebte ja schließlich auf Wolke sieben des kulturellen Universums. Aber mein himmlisches Glück währte nicht allzu lange.
Das Unglück näherte sich in der Gestalt einer spindeldürren Referendarin, auf deren Hakennase eine kleine randlose Brille thronte. Sie hatte im Handstreich die Regie in die Hand und meinem etwas eingeschüchterten Lehrer aus der Hand genommen. Sie faselte irgend etwas in ihren zarten Frauenbart, was so ähnlich klang, wie „neues Konzept, mehr Inhalt, Transparenz und Dichte (wahrscheinlich war sie nicht ganz dicht!)“. Sehr schnell merkte ich, dass zwischen den künstlerischen Vorstellungen dieser Referendarin und mir Theater-Welten lagen. Ehe ich mich versah, war ich zum dritten Hirten (!!!) degradiert worden, dem noch nicht einmal ein vollständiger Satz zugetraut wurde, sondern der den sinnfreien und lächerlichen Ausruf „Sehet, sehet!“ von sich geben durfte. Die Unperson gab mir dazu auch noch mit einem diabolischen Lächeln Regieanweisungen und lobte mich hinterhältig, wie toll ich mich in so kurzer Zeit in die Rolle hineinversetzen konnte.
Ich hatte sehr verständnisvolle und liebe Eltern. Sie kamen nicht zur Aufführung.