Abschiedsbrief an Angela Merkel, der nie abgeschickt wurde

Sehr geehrte Frau Merkel,
ich muss gestehen, ich habe Sie in all den 16 Jahren nicht einmal gewählt, obwohl ich es im Nachhinein bereut habe, Gerhard Schröder meine Stimme gegeben und schon jetzt bedaure, Olaf Scholz gewählt zu haben. Aber jedes Mal, wenn ich bewaffnet mit Schreibutensilien und Stimmzettel unschlüssig in der Wahlkabine stand, ließ ich Sie und ihre Partei „links“ liegen. Für mich waren Sie keine Frau der Reformen und Erneuerungen, sondern lediglich eine fleißige, vertrauensvolle und nüchterne Verwalterin. Sie brachten es in der Kategorie des politischen „Aussitzen“ von Problemen zur absoluten Meisterschaft. Manchmal war dieses Verhalten für die Sache sogar von Nutzen, oft wurde aber wertvolle Zeit vergeudet. Seltsamer Weise waren sie im Ausland mehr respektiert als in unserer Republik. Sie wurden hier als die mächtigste Frau der Welt betrachtet und gefeiert. Vielleicht liegt es daran, dass der Blick aus der Ferne Dinge etwas verklärter erscheinen lassen.

Sie verstanden es genial den Eindruck zu erwecken, dass sie mit den Entscheidungen der eigenen Regierung rein gar nichts zu tun hätten. Wie ist es sonst zu erklären, dass bei Umfragen folgendes widersprüchliches Ergebnis zustande kam? 70 Prozent der Befragten waren mit der Arbeit von Ihnen zufrieden, kritisierten aber in der gleichen Umfrage die Regierung! Der Kabarettist Volker Pispers hatte es einst meisterhaft verstanden, Sie zu charakterisieren: Eine Menschenmenge bewegt sich in eine bestimmte Richtung vorwärts. Die Bundeskanzlerin überholt die Menge, setzt sich an die Spitze und ruft „Folgt mir!“

Was wird von Ihrem politischen Vermächtnis in Erinnerung bleiben? Der schicksalsschwere Satz „Wir schaffen das“? Der stufenweise Atomausstieg? Die Raute als ein Symbol der Kontinuität und Sicherheit? Ihr Ruf als „Schwarze Witwe“, Synonym für das Ausschalten meist männlicher „Parteifreunde“? Die Bewältigung der Finanzkrise? Ihre Rolle zwischen Landesfürsten und Viren im Kampf gegen die Pandemie? Auch Sie werden sich dem unerbittlichen Urteil der Geschichte stellen müssen, mit all seinen manchmal überraschenden Kehrtwendungen, neuen Erkenntnissen, Lob oder Tadel nach einem bestimmten zeitlichen Abstand. So nimmt beispielsweise die Strahlkraft einer Lichtgestalt, wie John F. Kennedy, stetig ab, während ein zu seiner Zeit oft gescholtener Konrad Adenauer immer mehr Pluspunkte in dem historischen Bewertungsspiel sammelt. Es ist spannend zu sehen, in welchem Regal der Geschichte, Sie zu finden sein werden. Kann mir vorstellen, dass Sie unter der Etage von Willy Brand, aber weit vor Gerhard Schröder und Helmut Kohl landen werden. Helmut Schmidt wird man nicht ausmachen können, da ihn ein Heer von Rauchwolken umhüllt. Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger haben als Bundeskanzler so wenig Fußspuren hinterlassen, dass man sie heute fast gar nicht mehr wahrnimmt.

Vielleicht wünsche ich mir bei der nächsten Bundestagswahl, dass Sie doch noch auf der Wahlliste stehen würden. Könnte mir gut vorstellen, Ihnen dieses Mal meine Stimme zu geben. Nicht weil ich von Ihnen so überzeugt bin, sondern weil die nachfolgenden Möchtegerne nur in den unteren Schubladen ihr politisches Dasein fristen.

Zum guten und versöhnlichen Schluss noch ein Wort zu Ihrem erlesenen Musikgeschmack. Die drei Lieder, die Sie sich für den Großen Zapfenstreich ausgesucht hatten, sagen so einiges über Ihr Wesen aus:

Humor: Der größte Hit von Nina Hagen in der DDR „Du hast den Farbfilm vergessen“

Herkunft: Ökumenisches Kirchenlied „Großer Gott, wir loben dich“. Ihr Vater war evangelischer Theologe.

Charakter: „Für mich soll es rote Rosen regnen“ von Hildegard Knef. Kommentar von Knef über dieses Lied: „ Das ist ja wirklich ein hoch aggressives Lied, denn für mich soll es rote Rosen regnen und was den anderen passiert, ist mir eigentlich so ziemlich egal.“

Mein persönliches Resümee nach 16 Jahren Ihrer Regentschaft lässt sich mit zwei einfachen Sätzen wie folgt zusammenfassen: „Es kommt niemals etwas besseres nach“ und „Sie hat sich stets bemüht“. Ich wünsche Ihnen ein zufriedenes und gesundes Rentnerdasein, lukrative Vortragsreihen, politische Bestseller und und jede Menge Ehrungen und Preise, angefangen von „Hosenanzug-Trägerin des Jahrzehnts“ bis zum langersehnten „Friedensnobelpreis“.

Hochachtungsvoll
Ralph-Peter Fischer

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