In diesen Zeiten wird viel über die Versäumnisse und Missstände der katholischen Kirche diskutiert. Themen wie die Vertuschung der Missbrauchsfälle, das umstrittene Zölibat und das Verhindern von notwendigen Erneuerungen sind leider aktuell wie eh und je.
Zum überwiegenden Teil sind die Vorwürfe, die gegen die Kirche erhoben werden, gerechtfertigt. Ich möchte aber in meiner kleinen Erzählung über einen Menschen berichten, der sich wohltuend aus der Phalanx der ewiggestrigen und konservativen Geistlichen abhob.
Es handelt sich um den Pfarrer Franz Graß aus der Pfarrgemeinde St. Raphael in Heidelberg-Neunheim. Er war ein für die 50er Jahre außergewöhnlich moderner und dem Neuen aufgeschlossener Pfarrer, und wohl einer der ersten Geistlichen, der mit seinem DKW RT 125 Motorrad die Alpen überquerte, um den Vatikan zu besuchen. Zudem war er gefürchtet als verwegener und listiger Skatspieler sowie trickreicher Mittelfeldregisseur bei der Fußball-Auswahlmannschaft der Universität. Zudem sah er auch noch „unverschämt“ gut aus, und vermutlich hat so manches weibliches Wesen nur wegen ihm sich sonntags in schicke Kleider geworfen und die Messe besucht.
Meine erste denkwürdige Begegnung mit ihm hatte ich bei der Vorbereitung auf das große Ereignis der Ersten Kommunion. Wir kleinen Aspiranten wurden angewiesen, das sogenannte Beichtheft genau durchzulesen. Darin war beispielsweise aufgeführt, dass man in freigelassene Textpassagen eintragen sollte, wie oft man gelogen, wie oft man unkeusche Gedanken gehabt, wie oft man gestohlen habe usw. Mit meinen knapp 10 Jahren hatte ich keinen blassen Schimmer, was die Bedeutung mancher Begriffe betraf. In meiner Not wandte ich mich an meinen Vater, der mir riet, „einfach zu würfeln“. Das tat ich dann auch wirklich, denn mit meinem kindlichen Gemüt überlegte ich mir, dass ja keine Zahl größer als sechs herauskommen könne. Folglich würden meine jeweiligen schweren Sünden diese magische Zahl nicht überschreiten. Später erfuhr ich, dass mein Vater einen seiner berühmt berüchtigten Scherze mit mir getrieben hatte, und es ihm nicht in den Sinn kam, dass ich wirklich die Würfel über meine Sündenbilanz entscheiden lassen würde.
Als ich zu meiner ersten und auch gleichzeitig letzten Beichte ging, klopfte mein Herz vor Aufregung bis zum Hals. Im Beichtstuhl vernahm ich hinter der Trennwand die vertraute Stimme des Pfarrer Graß und war sofort wieder etwas beruhigter. Nachdem ich endlich mit bebenden und stockendem Stimmchen meinen „Sündenkatalog“ heruntergeleiert hatte, herrschte für einige Momente unangenehmes Schweigen im Beichtstuhl. Ich befürchtete schon, dass ich etwas falsch gemacht hätte, aber der Pfarrer sprach mit ruhiger Stimme folgende Worte zu mir , die ich niemals vergessen werde: „Ralph-Peter, jeder Mensch ist anders, kein Mensch ist dem anderen gleich. Jeder muss selbst für sich seinen eigenen Weg zu Gott herausfinden und gehen. Du wirst Gott nicht in Verboten, Anordnungen oder gar Drohungen finden. Du musst ihn in den Wundern der Natur und in Begegnungen mit Menschen entdecken“. Das waren mutige und weise Worte, wenn man bedenkt, dass sie vor fast 70 Jahren gefallen waren. Heute noch würden sie bei manchen klerikalen Funktionären sauer aufstoßen und (schein)heilige Zornesröte in ihre Gesichter zaubern.
Graß nahm auch das Seelsorgeamt im Klinikum der Universität Heidelberg wahr, wo er sich aufopfernd und selbstlos um die Patienten und ihre Angehörigen kümmerte. Im Dezember des Jahres 1958 sollte sich sein Leben dann auf dramatische Art und Weise verändern. Ein Arzt aus der Ludolf-Krehl-Klinik, der sich nicht impfen ließ (die Impfverweigerer gab es scheinbar schon damals), schleppte die Pocken anlässlich einer Reise nach Indien in die Heidelberger Klinik fahrlässig ein. Zwei Patienten starben und unzählige Menschen mussten in Quarantäne genommen werden. Graß bestand aber darauf, seine Patienten zu besuchen und ihnen seelischen Beistand zu leisten. Er wollte sie in ihrer Not nicht alleine lassen.
Die Zeitung mit den vier großen Buchstaben witterte eine gut zu verkaufende Story, versah die erste Seite mit seinem Konterfei und titelte den Artikel marktschreierisch und in großen Lettern: „Der Pockenpfarrer von Heidelberg“. Obwohl er am Zustandekommen dieses Machwerkes rein gar nichts zu tun hatte, schien diese mediale Aufmerksamkeit seinen Vorgesetzten ein Dorn im Auge gewesen zu sein, denn ihm wurde ein Dorf im Schwarzwald als neue Pfarrgemeinde zugewiesen. Angeblich um ihn vorsorglich und angeblich fürsorglich aus der „Schusslinie“ zu nehmen. Aber auch in seinem neuen geistlichen Betätigungsfeld sammelte er mit seiner menschlichen und aufgeschlossen Art Pluspunkte und Sympathie. Er gründete u.a. einen Fußballclub und viele karitative Einrichtungen. Plötzlich und unerwartet versetzte man ihn dann aber nach einigen Jahren wieder in seine ursprüngliche Gemeinde in Neunheim. Die Gründe waren mir nicht bekannt, denn er hatte nur ausweichend und vage darüber gesprochen. Aber seine Andeutungen ließen Vermutungen, eher Befürchtungen, über die Handlungsweisen der klerikalen Ordnungshüter aufkommen.
Inzwischen hatten meine Frau und ich in Bammental unsere Heimat gefunden und als unsere beiden Kinder getauft werden sollten, war es für mich eine Herzensangelegenheit, dass Franz Graß die Taufen übernehmen sollte. Mit freundlicher Erlaubnis des hiesigen Pfarrers wurden unsere Kinder an dem Ort getauft, an dem er im Beichtstuhl die für mich richtungsweisenden Worte fand.
Ich werde ihn als einen warmherzigen, hilfsbereiten, humorvollen und klugen Menschen immer in Erinnerung behalten. Mit ihm konnte ich „über Gott und die Welt“ sprechen und diskutieren, angefangen von der „unbefleckten Empfängnis“ über die Unfähigkeit der Politiker bis zu den aktuellen Fußballergebnissen. Die Welt wäre ein Stück besser, wenn es mehr Geistliche wie „meinen“ Pfarrer Graß geben würde. Er war fortschrittlich, tolerant und modern in einer Zeit, in der Homosexualität mit Gefängnis bestraft wurde und der Ehemann diktatorisch entscheiden konnte, ob seine Frau einen Beruf ausüben darf.
