Bereicherung

Unser Urlaub in Irland im Jahr 1992 ist mir in besonderer Erinnerung, da es der letzte Urlaub war, den wir zusammen mit unseren Kindern verbrachten.

Aber auch drei andere Dinge haben sich besonders in meinem Gedächtnis eingeprägt:

  • Linksverkehr,
  • ein Hund namens „Max“,
  • eine lustige Trauerfeier.

Schon im Flug von Frankfurt nach Shannon machte ich Bekanntschaft mit dem trockenen Humor der Iren. Auf die Frage an einen Einheimischen, wie denn das Wetter in Irland sei, teilte er mir ohne mit der Wimper zu zucken mit: „Very green“. Dies war die erste Lektion, die ich lernte, nämlich dass dieses begnadete Inselvolk die Gabe besitzt, mit wenigen Worten viel auszudrücken. In diesem aktuellen Fall mit nur zwei Worten eine Wetterlage zu beschreiben, für die eine deutsche Wetterstation einen mehrseitigen Lagebericht verfassen würde.

Die nächste Überraschung erwartete uns, als wir gut gelaunt und frohen Mutes am Flughafen in unseren Mietwagen einsteigen und unsere gewohnten Sitzpositionen einnehmen wollten. Die Iren hatten das Lenkrad auf der „falschen Seite“ eingebaut!Aber nach eingehender und intensiver Beratung kamen wir zu dem Schluss, dass ein einfacher Platzwechsel das Problem lösen könnte. Mit etwas Unbehagen und einem flauen Gefühl im Magen nahm ich auf der ungewohnten rechten Seite des Wagens Platz. Nach einigen Kilometern experimentierfreudiger Fahrt auf der „falschen“ Fahrbahnseite teilte ich meiner gebannt auf die Straße blickenden Frau mit: „Irland scheint ein sehr fortschrittliches Land zu sein. Im Rückspiegel ist zu sehen, dass fast nur Frauen am Steuer sitzen!“ Meine praktisch veranlagte bessere Hälfte schaute nicht in den Rückspiel, sondern durch die Rückscheibe und verkündete lakonisch, dass dieses Land doch nicht so fortschrittlich gesinnt sei, da wohl fast nur Männer am Steuer sitzen würden, Der Rückspiegel hatte durch seine seitenverkehrte Perspektive die Lösung von gesellschaftskritischen Problemen sichtlich vorangetrieben und war scheinbar der Zeit und der Emanzipation weit voraus.

Für die zweite Hälfte unseres zweiwöchigen Urlaub hatten wir ein idyllisches Quartier in Form eines umgebauten alten Försterhauses gebucht. Im Hochglanzprospekt stach uns gleich der Hinweis „mit Seeblick“ ins Auge. Da das Haus weit entfernt von der Küste lag, konnte es sich nur um einen malerisch inmitten von Wiesen und Bäumen gelegenen See handeln. Als wir unser Ziel erreichten, war von einem See weit und breit nichts zu sehen. Auf unsere entsprechende Frage hin, bat uns die Herrin des Hauses, ihr ins Haus zu folgen. Nach einer nicht unbeträchtlichen Anzahl von knarrenden und ächzenden Treppenstufen erreichten wir einen verstaubten, düsteren Dachboden mit einer Fensterluke. Wie der Späher einer Indianerhorde erläuterte sie gestenreich die Lage. Es begann mit der Frage, ob wir da hinten am Horizont eine Baumkette mit dem bloßen Auge ausmachen könnten? Ob wir auch das Glitzern zwischen den Baumwipfeln entdecken könnten? Da würde sich der See befinden!

Sobald sie unsere teils enttäuschten, teils ungläubigen Blicke sah, versicherte sie geschäftsmäßig, dass wir uns keine Sorgen machen sollten, uns würde ein ortskundiger und zuverlässiger Führer zur Verfügung gestellt werden.

Am nächsten Morgen wollten wir erwartungsvoll zu dem geheimnisvollen See aufbrechen, sahen aber außer einem Hund keine Menschenseele. Dieses Mal übernahm der herbeieilende Herr des Hauses die Rolle des Moderators. Mit todernstem Gesichtsausdruck erklärte er uns, dass sein Hund „Max“ unser ortskundiger, aber auch offensichtlich sprachunkundiger Führer sei. Als wir auf ein erlösendes „it’s a joke“ warteten, merkten wir, dass es sein bitterer Ernst war. Damit sich im alten Försterhaus nicht der Glaube verbreitete, wir Mitteleuropäer seien feige und phantasielos, taten wir so, als ob wir schon im Himalaya statt mit Sherpas mit nepalesischen Hunden unterwegs gewesen seien. Mit Gottvertrauen und mehr oder weniger stillen Gebeten vertrauten wir uns der Führung des neugierig blickenden Vierbeiners an. Unsere Kinder fanden das Ganze in ihrem jugendlichen Leichtsinn äußerst lustig und für eine willkommene Abwechslung (heutzutage würde man es „cool“ nennen).

Nach einem circa einstündigem abwechslungsreichem Fußmarsch führte uns Max tatsächlich an einen herrlich gelegenen kleinen See. Unser Führer entschied sich sofort für ein Entspannungsbad und planschte genüsslich in dem erfrischendem Nass (siehe Bild unten). Schließlich schritt er völlig entspannt an das Ufer, schüttelte sich kräftig und verschwand hinter einem dichten Wall von Hecken und Büschen. Beunruhigt waren wir erst, als er sich nach zehn Minuten immer noch nicht blicken ließ, denn wir waren uns gar nicht sicher, ob wir den Weg zurück zum alten Försterhaus wieder finden würden. Tausend Gedanken schossen durch unsere Köpfe: Hält er ein Mittagsschläfchen? Hat er die verheißungsvolle Fährte von scheuem Wild entdeckt? Will er vielleicht langweiligen kontinentalen Fremdlingen einen Schreck einjagen und freut sich diebisch, dass wir die Nacht frierend an einem unbekannten irischen See verbringen müssen? Als Max nach einer gefühlten Ewigkeit sich gähnend aus dem Gehölz begab, brachen wir völlig enthemmt in laute Jubelschreie aus und begrüßten ihn überschwänglich, was er mit einer gewissen Gelassenheit zur Kenntnis nahm. Um es kurz zu machen, er brachte uns sicher wieder zu unserem Quartier und freute sich sogar über unsere Dankbezeugungen in Form von unzähligen Streicheleinheiten, die er uns stolz gewähren ließ. Den Vermerk „mit Seeblick“ wird seit diesem kleinen Abenteuer von unserer Familie mehr als misstrauisch beäugt.

Nachdem wir das „Seeabenteuer“ mit der gütigen Hilfe von Max heil überstanden hatten, gönnten sich meine Frau und ich einen abendlichen Besuch in einem Pub des Nachbarstädtchens. Als wir den zugleich gemütlichen, als auch originellen Pub betraten, fiel uns gleich die fröhliche und ausgelassene Stimmung der zahlreichen Gäste auf. Gastfreundlich wie die Iren nun mal sind, nahm man uns in ihrer Mitte auf, als ob wir von jeher zu ihnen gehören würden. Ein Satz, der einem alten irischen Sprichwort entnommen war, hat mich besonders beeindruckt und ich habe ihn bis heute nicht vergessen: „Es gibt keine Fremden, sondern nur Freunde, denen wir noch nicht begegnet sind“. Dank meiner rudimentären Englischkenntnisse musste ich mir den Sinn mehrmals erklären lassen. Aber mit dem sich steigernden Konsum von Guinness, wuchs dann von Pint zu Pint auch meine Erkenntnis.

Da sie alle festliche Kleidung trugen, größtenteils in schwarz, fragten wir neugierig, was eigentlich der Anlass der Feier wäre. Es wurde uns ohne jeden falschen Pathos mitgeteilt, dass es sich um eine Beerdigung einer Verwandten handle. Man erklärte uns aber sogleich pragmatisch, dass so eine zwar sehr traurige Angelegenheit auch eine gute Seite habe, nämlich dass sich die große über weite Teile des Landes verstreute Verwandtschaft mal wieder vollständig treffen und austauschen könnte. Überwiegend lustig und laut ginge es zu, weil es die Verstorbenen so wünschten und man außerdem mit öffentlichem Flennen und Heulen auch nicht mehr die Toten zum Leben erwecken könne. Es wurde eine Beerdigung, bei der wir mehr über die Verstorbene erfuhren, als über manch eigene Verwandten. Wir durften Lieder hören, die von herrlichen Stimmen abwechselnd melancholisch und sentimental, laut schmetternd und überschwänglich, mit Inbrunst und Hingabe vorgetragen wurden. Sie waren eine harmonische Mischung aus Chorälen, Hymnen, Trinklieder und Balladen. Nach jedem Lied gab es einen Toast auf die Verstorbene.

Wir lernten in Irland nicht nur interessante, humorvolle und liebenswerte Menschen sowie wunderbare Landschaften, alte Burgen und Klöster kennen, sondern auch die exklusive allgemeine Ansicht, dass alle Europäer auf der falschen Seite Autofahren würden und die Insulaner deshalb nie einen Fuß auf dieses merkwürdige Festland setzen könnten.

Eigentlich schade, sie wären bestimmt eine Bereicherung.

Touristenführer „Max“ beim verdienten Entspannungsbad

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. MIchael Rappe

    Ich kann solche Erlebnisse mit wundervollen Menschen in Irland nur bestätigen. Die Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft der Iren ist enorm. Aufgrund des ungewohnten Linksverkehrs hatten wir mit meinen VW-Käfer einen Zusammenprall mit einem Traktor. Uns wurde sofort ein Quartier gewährt (Bed und Breakfast) und am nächsten Morgen kümmerte sich der Besitzer um unser Auto. Einen Tag später hatten wir einen neuen Scheinwerfer am demolierten Kotflügel. Und der Mechaniker war fast beleidigt, als ich ihn bezahlen wollte. Das war 1990. Deutschland war gerade Weltmeister geworden und mein Freund und ich genossen sozusagen Heldenstatus. Schon wegen des Käfers fielen wir auf, mit dem deutschen Kennzeichnen noch mehr. „Lothar Matthäus, Franz Beckenbauer, Jürgen Klinsmann“ – wir waren sozusagen selbst Weltmeister. Und auch unvergessen – ein irischer Tankwart bot uns 10.000 Irische Pfund für den Wagen. Ich habe nein gesagt, obwohl ich 1986 nur 6500 DM dafür bezahlt hatte. Ja, schöne Erinnerungen.

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