Nachts auf der B 3

„Mens sana in corpore sano“ dachte man sich im wissenschaftlichen Springer-Verlag und gründete anno 1970 eine Tischtennisbetriebsgruppe. In Ermangelung einer eigenen Sporthalle durchstreiften wir die Heidelberger Sportstätten, Hinterhöfe, Speicher und die abenteuerlichsten Lokalitäten wie ein Nomadenvolk auf der Suche nach neuen Wasserreservoiren. Immer nach einer Möglichkeit Ausschau haltend, in irgend einem noch so kleinem Winkel Tischtennisplatten aufzustellen zu können, Netze aufzuspannen und die Schläger aus den Taschen zu holen. Als wir durch Zufall erfuhren, dass sich zahlreiche Betriebe rund um Heidelberg zu einer TT-Firmenrunde in drei Klassen (mit Auf- und Abstieg) zusammengeschlossen hatten, gab es für uns kein Halten mehr. Dank zahlreicher Schmetter- und noch mehr Kantenbällen schafften wir sogar den Aufstieg in die erste Klasse.

Eines Tages im Spätherbst war ein Spiel in Reilingen angesetzt. Gegner und Jahreszahl sind mir nicht in Erinnerung geblieben. Ich weiß nur noch, dass es ein heiß umkämpftes Spiel war, welches erst gegen Mitternacht mit einem gerechten Unentschieden ein für beide Seiten befriedigendes Ende gefunden hatte.

Erschöpft und mit mir und der Tischtenniswelt unzufrieden (ich hatte beide Einzel verloren) setzte ich mich in mein Auto und steuerte mit stark gedrosselter Geschwindigkeit bei gefrierendem Nieselregen heimatliche Gefilde an. Auf der B 3 in Höhe von Wiesloch tauchte plötzlich ein Land Rover mit einem Transportanhänger vor mir auf. Auf seiner Rückseite sprang mich in greller Neonschrift das Schild „Achtung! Turnierpferde“ geradezu an. Schemenhaft und fast surreal nahm ich zwei Pferderücken und Schweife wahr. Kurz bevor ich überholen konnte, fing der Anhänger plötzlich an unkontrolliert hin und her zu schlingern. Bei dem eisigen Untergrund war es viel zu gefährlich ein gewagtes Bremsmanöver zu starten, aber es gelang mir, mich auf wundersame Art und Weise an Auto und Anhänger vorbei zu schlängeln. Wie mein treues Gefährt und meine überschaubare Fahrkunst das waghalsige Unterfangen geschafft hatten, ist mir heute noch ein Rätsel. Im Rückspiegel musste ich zu meinem Schrecken erkennen, dass der Anhänger mit den Pferden umgekippt war, aber der Land Rower zum Glück scheinbar unversehrt den Unfall überstanden hatte. Kaum hatte ich das Warnlicht eingeschaltet und den Wagen verlassen, stand wie aus dem Erdboden gewachsen eine junge Frau vor mir, die zwei wundersam unversehrte Pferde an den Zügeln hielt. Als ob es das Selbstverständlichste auf der Welt sei, sagte sie mir in einem Ton, der keine Widerrede erlaubte: „Da, halte mal. Ich muss telefonieren, um Hilfe zu holen!“. Normalerweise hasse ich es wie die Pest, wenn mich fremde Leute duzen, aber ich fügte mich widerwillig und mit stillem Protest angesichts dieser Notsituation.

Da stand ich nun, ich armer Tropf, mitten in der Nacht im gefrierenden Regen, auf einer Bundesstraße, zwei Pferde krampfhaft festhaltend. Warum hat mir nie jemand gesagt, wie groß ausgewachsene Turnierpferde sein können?!? In den Wildwest-Filmen haben sich Cowboys und Indianer mit einer selbstverständlichen Leichtigkeit und Lässigkeit auf die Rücken geschwungen, auf welchen angeblich alles Glück dieser Erde liegen soll. Die beiden Pferde sahen mit einer Mischung aus Neugierde und leichter Verwunderung auf mich herunter. So als wollten sie mich, den „Aufpasser“, beruhigen. Da besann ich mich auf die mir zugewiesen Rolle und murmelte ein verschämtes und kleinlautes „brav, brav“. Dieses hilflose Stammeln schien sie mehr zu belustigen als zu beruhigen, denn sie stießen ein fröhliches und aufmunterndes Wiehern aus. Nur wenn gerade Lastwagen und PKWs gefährlich nahe an uns vorbeirasten, ging ein Zittern durch die edlen Pferdekörper, was bei mir sogleich ein heftiges Beben im zentralen Nervensystem auslöste.

Endlich nach einer gefühlten Ewigkeit kam Hilfe in Form eines weiteren Pferdetransporters und ich wurde von meinen beiden unfreiwilligen, aber freundlichen und verständnisvollen Begleitern befreit (oder sie von mir). Die junge Frau schenkte mir ein Lächeln und ein „Dankeschön“. Ich tippte gegen meinen imaginären Cowboyhut und erwiderte lässig „Schon gut“. Ich kam mir vor, wie die Mischung aus einem diplomierten Pferdeflüsterer, der zwei wilde Pferde durch Handauflegen zähmt, und einem Westernheld, der am Ende eines Filmes, untermalt von Hillbilli-Klängen und schmachtenden Geigentönen gegen den Sonnenuntergang reitet.

Sehr schnell holte aber die Realität den edlen Pferdeflüsterer und den gen Sonnenuntergang reitenden Cowboy wieder ein. Mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich auf einmal einsam und verlassen nachts um 1 Uhr auf einer Bundesstraße im Eisregen stand und dümmlich den in der Dunkelheit verschwindenden Rücklichtern eines Pferdetransporters hinterher blickte.

Als ich endlich das friedlich vor sich hin schlummernde Bammental und mein trautes Heim erreichte, saß meine Frau noch vor dem Fernseher und erkundigte sich besorgt, warum ich so spät heimkäme. Ich erwiderte wahrheitsgemäß: „Ich stand auf der B 3 mit zwei Turnierpferden“. Sie blickte mich zugleich verwundert, besorgt und ärgerlich an, bevor sie mich mit einem gefährlichen Unterton in der leicht zitternden Stimme fragte: „Du hast hoffentlich nichts getrunken?!?“

Manchmal haben es die Ehrlichen dieser Welt wirklich nicht leicht.

So in etwa lag der Pferdetransporter auf der Straße

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