Ein guter Freund warnte mich, dass es gefährlich sei, die selben Lieder zu hören, die selben TV-Serien zu sehen und die selbe Sprache zu sprechen wie mein damals 14-jähriger Sohn. Wenn ich so weiter machen würde, fuhr er dozierend fort, könnte ich sicher sein, dass er sich eines Tages einen Irokesenschnitt zulegen oder bestenfalls die Haare kunterbunt färben würde. Ungläubig fragte ich ihn, warum er auf so abstruse Ideen kommen sollte. Lakonisch antwortete mein Freund, dass sich ein Jugendlicher in diesem Alter von den Ansichten und Meinungen seines Vaters abgrenzen will, dass er sich an ihm reiben und Widersprüche herausfordern möchte. Das sei völlig natürlich und dieser klärende „Kampf“ finde schon seit unzähligen Generationen statt. Erst wenn dieses Trotzalter der Teenager, auch Pubertät genannt, vorbei sei, kommen die Söhne zu der Erkenntnis, dass die Väter dieser Welt jetzt wieder recht vernünftig geworden seien.
Auf jeden Fall beobachtete ich nach diesem aufschlussreichen Gespräch das Verhalten meines Sohnes etwas genauer und nach und nach merkte ich, dass er gar nicht so unrecht hatte. Mein Sohn mutierte von einer Sportmuffel zum glühenden Fan von Bayern München, obwohl er nicht viel Ahnung vom Fußball hatte. Nur weil er wusste, dass ich diesen Angeberclub verdammt nicht leiden konnte. Er wurde zum Anhänger der CDU und insbesondere von Helmut Kohl, weil er wusste, dass ich mit der SPD sympathisierte. Hieraus ergab es sich zwangsläufig, dass wir hitzige Debatten über die Politik des Regierungschef führten. Meine Ausführungen endeten meist mit der Feststellung, ja fast mit der Drohung: „Wenn ich Herrn Kohl mal begegne, werde ich ihm aber gehörig meine Meinung sagen“.
Schon nach kurzer Zeit sollte ich Gelegenheit haben, den gewagten Vorsatz in die Tat umzusetzen. Meine Familie und ich unternahmen einen Spaziergang auf dem weltberühmten Philosophenweg, als uns zwei Spaziergänger entgegenkamen. Meine Frau meinte: „Sind das nicht …?!?“ Ja, sie waren es! Helmut und Hannelore Kohl im Freizeitlook strebten auf uns zu. Weit und breit waren keine Bodyguards zu sehen. Falls sie doch da waren, hatte sie alle Tarnkappen auf oder schwangen sich wie Tarzan in den Wipfeln der heimischen Buchen von Ast zu Ast.
Als wir uns dann begegneten und auf gleicher Höhe befanden, grüßte ich die prominenten Spaziergänger mit einem höflichen, aber nicht devoten „Guten Tag“, was von dem Ehepaar freundlich erwiderte wurde. Den protokollarisch korrekten Zusatz „Herr Bundeskanzler“ hatte ich mir verkniffen. Das war sozusagen mein stiller Protest und der höchste Grad der Ablehnung.
Sobald aber beide aus unserer Hörweite verschwunden waren, blickte mich mein Sohn nachdenklich von der Seite an und meinte mit einem nicht zu überhörendem spöttischem Unterton: „Dem hast Du jetzt aber richtig die Meinung gesagt!“.
Mein Sohn hatte sich in seinem späteren Leben zum Glück nicht mehr um den bayrischen Nimmersatt-Club gekümmert und auch der christlich-demokratischen Partei hat er seine wohlwollende Gunst entzogen. Er ist jetzt Sympathisant und bekennender Wähler der FDP. Aus begreiflichen Gründen, werde ich in Zukunft davon absehen, Herrn Lindner gehörig die Meinung zu sagen. Die Welt ist klein und wer weiß schon, wo der Chef der Liberalen seine Spaziergänge zu machen pflegt.
PS. Mein Sohn hatte sich nie die Haare bunt gefärbt, geschweige denn sich einen Irokesenschnitt verpassen lassen
