Stilles Heldentum

Kürzlich vertrat ein Redakteur der hiesigen Tageszeitung in seiner Kolumne die exklusive Meinung, dass Angela Merkel eine „Coronaheldin“ sei.
Mit dem Begriff des „Heldentums“ sollte man meiner Meinung nach sehr vorsichtig und differenziert umgehen. Deshalb möchte ich dem Verfasser empfehlen, nur für einen Tag eine Intensivstation mit Corona-Kranken aufzusuchen. Da kann er die wahren – und nicht die „politischen“ – Heldinnen und Helden kennenlernen. Sie kämpfen Tag für Tag, Nacht für Nacht aufopferungsvoll bis zur physischen und psychischen Erschöpfung um das Leben der Patienten.

Aber diese Kolumne erinnerte mich unwillkürlich auch an meine verstorbene Mutter. Sie wurde 1909 in Magdeburg geboren und besuchte nach Abschluss der Schule eine Tanzstunde, war so begeistert von den Rhythmen und Bewegungen, dass sie beschloss Tanzunterricht zu nehmen. Danach zog es sie hinaus in die „Große Welt“ und das war in den Zwanziger und Dreißiger Jahren die glamouröse und glitzernde Metropole Berlin. Sie bewarb sich bei der Filmgesellschaft Universumfilm (UFA) und trat als Tänzerin u.a. in den berühmten Revueshows und Filmen von Marika Rökk auf.

Mitte der Dreißiger Jahre nahm dann in Berlin der Judenhass und die Diskriminierung immer mehr zu. In ihrer Tanzgruppe war dieses furchtbare Geschehen nur mit vorgehaltener Hand ein Thema. Aber ihre beste Freundin in der Gruppe verriet ihr, dass sie Jüdin sei und von einem befreundeten hohen Parteimitglied den Tipp bekommen habe, dass ihre Deportierung kurz vor der Tür stehe. Sie hätte zwar Verwandte und Freunde in den USA, aber die Flucht könne nicht so kurzfristig vorbereitet werden. Ohne auch nur eine Sekunde zu Zögern oder zu Überlegen bot ihr meine Mutter an, sich bei ihr in der Wohnung zu verstecken. In ihrer Verzweiflung nahm die Freundin das Angebot an, obwohl ihr bewusst war, dass sie meine Mutter einer tödlichen Gefahr aussetzte. Nach einer Woche der Angst und des Bangens gelang ihr bei einer Nacht- und Nebelaktion die abenteuerliche Flucht mit dem Auto eines Freundes quer durch Deutschland in die neutrale Schweiz.Von hier aus konnte sie mit dem Flugzeug in die USA ausreisen. Sie lebte bis ins hohe Alter gesund und zufrieden mit Ehemann, Kindern und Enkeln in Los Angeles.

Nach Kriegsende schickte sie meiner Mutter regelmäßig Pakete mit Kaffee und Zigaretten. Ironie des Schicksals war es, dass meine Mutter, die bis dahin Nichtraucherin war, ab diesem Zeitpunkt mit dem Rauchen anfing. Fast entschuldigend sagte sie später zu mir, dass sie als Ausgleich für das Elend und die Wirren des Zweiten Weltkrieges, ein unwiderstehliches Verlangen nach Genuss und Entspannung verspürte. Ihr war bewusst, dass sie mit dem Inhalt der Pakete auf dem sogenannten „Schwarzen Markt“ ein kleines Vermögen hätte erzielen können. Aber ich konnte ihre vermeidliche kleine Schwäche völlig nachvollziehen.

Meine Mutter hatte mir gegenüber die dramatischen und gefährlichen Ereignisse nicht mit einem Wort erwähnt. Erst als mir ein guter Freund der Familie von dieser Begebenheit berichtete, sprach ich sie an und fragte verwundert, warum sie niemals davon erzählt habe. Sie antwortete lakonisch, dass es doch nur 8 Tage gewesen seien und es sei doch wirklich das mindeste gewesen, was man für seine beste Freundin hat tun können. „Das mindeste“ hätte ihr das Leben kosten können!

Sehr geehrter Herr Redakteur, Menschen wie meine Mutter, die im Stillen und Verborgenen ihr Leben für ihre Freunde und Mitmenschen riskieren, das sind für mich die wahren Helden und Heldinnen. Nicht die Politiker, die auch noch dafür entlohnt werden, dass sie ihren Eid einlösen, mit dem sich verpflichtet haben, sich für das Wohlergehen ihrer Mitmenschen einzusetzen.

Die zweite von rechts ist meine Mutter bei Filmaufnahmen in Berlin-Babelsberg

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Sabine Fischer

    Ich denke diese rührende Geschichte über meine Oma rückt so einige „Probleme“, die wir heutzutage zu haben meinen, wieder ins richtige Licht. Ich denke, es ist wichtig, dass diese düstere Zeit nie vergessen wird. Meine Großeltern haben noch die Kaiserzeit, den ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik und den zweiten Weltkrieg miterlebt. Ich dagegen kann mich nur an Kohl und Merkel erinnern (mit kleinem Zwischenspiel von Schröder). Ich habe keinen Krieg, kein Hunger, kein Leid, keinen Verlust eines geliebten Menschen durchleben müssen, durfte zur Schule gehen und hatte die Chance, aus meinem Leben etwas zu machen (und noch dazu habe ich sehr liebevolle und fürsorgliche Eltern) – und dafür bin ich dankbar.

    Wenn also jemand auf die Straße geht, um gegen die „Corona-Diktatur“ zu demonstrieren, dagegen, dass es seine Grundrechte einschränkt, weil er eine Maske tragen muss, weil er nicht in die Kneipe gehen und dort am Stammtisch seine dummen Sprüche loslassen darf, dann fehlen mir einfach nur die Worte, angesichts dieses ausufernden Egoismus. Wie verwöhnt sind wir Europäer heutzutage eigentlich, dass beispielsweise eine Greta Thunberg vorwurfsvoll anprangert, die Erwachsenen hätten ihre Jugend zerstört? Da hätte sie sich einfach mal mit meiner Oma unterhalten sollen. Sind es nicht auch diese Erwachsenen, die letztendlich dafür gesorgt haben, dass sie in Frieden aufwachsen darf? Und wie verwöhnt sind wir, um exzessiv darüber diskutieren zu müssen, wie man korrekt gendert? Ich denke, wenn wir solche Probleme haben, dann geht es uns gut. Eine Frau in Indien oder Mexiko beispielsweise wäre einfach nur froh, nicht vergewaltigt oder umgebracht zu werden, statt sich darüber zu ärgern, in einem Schreiben nicht als „Mitarbeiterin“ (wenn sie denn das Glück hat, einen Job zu haben) angesprochen zu werden.

    Und natürlich sage ich nicht, dass man sich nicht für seine Überzeugungen einsetzen sollte, wie zum Beispiel gegen Rassismus oder den Klimawandel, doch wir sollten uns einfach mal der Dinge bewusst werden, die wir haben und dass es uns doch im Großen und Ganzen ganz gut geht.

    Von daher fände ich es sehr schön, wenn noch mehr Menschen wie mein Vater die Geschichten über ihre Eltern oder Großeltern, die noch die schreckliche Zeit des Krieges miterlebt haben, teilen würden, die Geschichten der „stillen Helden“, damit diese Zeit nie vergessen wird.

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