Wie ich meinen Chef (beinahe) in die Klapsmühle brachte

Es war an einem schwülen und heißen Nachmittag im August des Jahres 1969. Der Springer-Verlag hatte noch sein Zuhause in der Neuenheimer Landstraße am Fuße des Heilgenbergs. Wenn man aus dem Fenster schaute, wurde man von dem romantischen Teil Heidelbergs geradezu erschlagen. Alte Brücke, weltberühmtes Schloss, historische Altstadt und der erhabene Königstuhl wetteiferten um die Gunst der Betrachter. Nur wir von der Arbeiterfront waren inzwischen immun gegenüber touristischen Highlights. Diese kleine Einleitung ist zwingend notwendig, um das dramatische Geschehen zu verstehen, das sich an besagtem Nachmittag ereignete und das ich nun mit meinem bescheidenen literarischen Talent zu schildern versuche.

Mein damaliger Chef, Leiter des Bereichs Buch- und Zeitschriftenproduktion, konnte kein Schriftstück des täglichen Postverkehrs an seine Teams weiterleiten, ohne ein kunstvolles und genial geschwungenes R auf dem Blatt zu hinterlassen. Dieses R war das unmissverständliche und ultimative Zeichen, dass er so schnell wie möglich eine Rücksprache mit seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen „erbat“. Es konnte ein positiver Anlass sein, der mit einem kleinen nicht allzu enthusiastischen Lob verbunden war (eher selten) oder ein Ratschlag, der in einer strikten und unmissverständlichen Anweisung endete (fast immer) oder ein Tadel mit kostenloser „Kopfwäsche“ (zum Glück eher selten). Das ganze gut gemeinte Prozedere hatte nur einen ganz gewaltigen Haken: Da er fast jedes Schriftstück mit seinem R verzierte, entstanden permanent R-Staus und angestauter Frust von gewaltigen Ausmaßen, zumal man bei seiner Sekretärin im Vorzimmer ständig nachfragen musste, ob er uns mit seiner Anwesenheit erfreute und wenn ja, ob allein, ob gesprächsbereit oder beschäftigt. Das ging sowohl der Belegschaft als auch der ansonsten durchaus freundlichen Vorzimmerdame ganz gewaltig auf die Nerven.

Um weiterhin die höchst komplizierte Dramaturgie nachvollziehen zu können, hier noch eine Erläuterung zu der Bauweise und Einteilung der damaligen Büros. Ich war in der sogenannten Handbibliothek untergebracht. Die Wände waren voll mit Regalen, in denen je ein Musterexemplar der Produktion alphabetisch geordnet lagerte. Da die Regale sehr hoch waren, hat man zur Hilfe für etwas kleiner geratene Lebewesen – wie ich zum Beispiel – eine Sprossenleiter an die Regale gestellt. Meine findigen Kollegen und Kolleginnen entwickelten schließlich folgenden genialen Plan, welcher das lästige Nachfragen im Sekretariat überflüssig machen sollte: Sie riefen einfach mich an und fragten, wie denn die aktuelle Lage für R-Besprechungen sei. Ich klettere dann mit der Behändigkeit eines Orang-Utans auf besagte Leiter für Kleinwüchsige und schaute durch das Oberlicht über den Gang hinweg in das Zimmer unseres Chefs, dessen Büro natürlich auch von einem Oberlicht erhellt wurde (siehe Abbildung am Ende des Beitrages). Nun konnte ich mit detektivischem Scharfsinn die jeweilige Situation blitzschnell erfassen: Entweder war das Zimmer leer oder er hatte eine Besprechung oder er telefonierte, diktierte, las, redigierte, sah gedankenverloren auf den gegenüberliegenden Königstuhl. Weitere Details möchte ich nicht preisgeben, da mein Chef sich bester Gesundheit erfreut und weiß, wo ich wohne. Umgehend stieg ich dann von meinem „Hochsitz“ herunter und informierte die ungeduldig warteten R-Aspiranten über die aktuelle Lage.

Die bisherige Schilderung einer scheinbar profanen Maßnahme zur Verbesserung der innerbetrieblichen Kommunikation scheint meilenweit von dramatischen und aufwühlenden Geschehnissen entfernt zu sein. Aber Geduld, das „dicke Ende“ kommt noch.

Wie anfangs erläutert, war es ein äußerst schwüler und heißer Nachmittag mit extrem hoher Luftfeuchtigkeit. Ich brütete gerade über Korrekturen der vierten Revision eines sich in einen Änderungswahn gesteigerten Autors, als mich ein aufgeregter Kollege bat, auf meinen Beobachtungsposten zu klettern. Aus luftiger Höhe konnte ich meinen mir mit dem Rücken zugewandten Chef sehen, der alleine im Zimmer an seinem Schreibtisch saß und aus dem Fenster Richtung Königstuhl blickte. Ich stieg von schwindelerregender Höhe wieder zu den Niederungen meines Schreibtisches herunter. Kaum hatte ich die frohe Botschaft an meinen Kollegen weitergeleitet, als ich auf dem Gang undefinierbare und beunruhigende Geräusche wahrnahm, die sich wie Stöhnen und Seufzen anhörten. Ich öffnete die Tür mit der mir eigenen Neugier, blickte in das von Schrecken verzerrte und leichenblasse Angesicht meines Chefs, den mein Anblick seltsamerweise noch mehr zu verstören schien und sah ihn mit schwankenden Schritten in der Toilette verschwinden. Ich fragte seine Sekretärin, die grinsend in der Tür stand, was denn um Gotteswillen passiert sei, ob vielleicht der Verlag Konkurs angemeldet habe, seine Frau mit einem Zirkusartisten durchgebrannt sei oder er vergessen hatte, wie sein über alles geliebte R geschrieben wird? Laut lachend gab sie in bestem Berlinerisch folgendes zu Protokoll: Er sei allein im Zimmer gewesen und habe plötzlich die Tür aufgerissen, nach Luft ringend geröchelt, dass er Gespenster sehe und klapsmühlenreif sei, denn er habe, als er aus seinem Fenster auf den Königstuhl blickte, mit eigenen Augen erleben müssen, wie der Fischer über dem Berg wie der Mond „aufgegangen“ sei.

Des Rätsels Lösung war natürlich, dass sich mein unverwechselbarer Charakterkopf – bedingt durch das Oberlicht – in seinem dem Königstuhl zugewandten Fenster spiegelte. Irgend ein kleines Teufelchen (oder vielleicht auch Engelchen) ließ scheinbar mit Zauberhand den Gipfel des Bergrückens und meinen Kopf in eine formvollendete, leider nur wenige Sekunden dauernde Symbiose verschmelzen. Bis heute habe ich aber nicht überwunden, dass er jene wunderbare, geradezu allegorische Erscheinung als „Gespenst“ bezeichnete.

Nachtrag: Mein Chef hatte mich nie gefragt, wie es mir gelungen sei, vom Gipfel des Königstuhls auf ihn hinab zu blicken. Ich habe auch nie das klärende Gespräch gesucht, zumal des Rätsels Lösung zu trivial und menschlich gewesen wäre.

Dieser Beitrag hat 3 Kommentare

  1. Birgit und Michael Cromer

    Oh, Ralph,
    wir haben herzhaft gelacht.
    Deine wortgewandte Gabe und das System des Aufbaus Deiner Geschichte, lässt die Geschehnisse vor dem inneren Auge wachsen, bis die Pointe zu einem Lacherknall führt.
    Köstlich, einfach spitze.

  2. Picht, Lothar

    Lothars Kommentar: eine herrliche, literarisch perfekt wiedergegebene Episode zum Schmunzeln; Glückwunsch an den Autor!

  3. Rüdiger Brech

    Den besagten Chef habe ich nicht mehr erlebt, ein R gab es auch später noch und die Oberlichter zum Gang. Nur von dieser sich bietenden Anwendung habe ich nicht gewusst.
    Eine schöne Geschichte!

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