Im April des Jahres 1985 schickte mich mein Chef für vier Wochen auf die Insel, genauer gesagt in die Weltmetropole London, um in einem Sprachinstitut mein nur noch rudimentär vorhandenes Schul-Englisch aufzufrischen. Das Management der Schule besorgte mir eine Unterkunft bei einer Gastfamilie in dem Stadtteil Marylebone. Von hier aus waren es nur noch drei U-Bahnstationen bis zumsprachlichen „Trainingsgelände“. Das Institut lag direkt am weltberühmten Covent Garden, die wohl bekannteste Bühne für Straßenkünstler aus der ganzen Welt.
Eines Tages verkündete unsere Lehrerin, dass die ganze Klasse einen Ausflug ins Old Bailey, dem weltberühmten Gerichtsgebäude, unternehmen würde. Das dort tagende Krongericht verhandelt bedeutende Kriminalfälle des Vereinigten Königreiches. Sie erkundigte sich, ob jemand von uns einen Personalausweis dabei habe, derjenige könne dann einer Gerichtsverhandlung beiwohnen. Lediglich Stefano, ein Banker aus Mailand, und ich hatten die entsprechenden Papiere zufällig morgens eingesteckt. Der Rest wurde zu einer Besichtigung des Gebäudes eingeteilt und durfte sich der Betrachtung von schier endlosen Gängen, Marmortreppen und Säulen widmen.
Uns beiden „Auserwählten“ nannte man die Nummer eines bestimmten Raums im oberen Teil des Gebäudes. Vor dem Zimmer saß ein älterer Beamter mit kräftiger und streng nach hinten gekämmter weißer Haarpracht und einer pompösen Paradeuniform. Er verlangte in höflicher aber bestimmter Form unsere Personalausweise und studierte minutenlang konzentriert und misstrauisch diese geheimnisvollen und fremdartigen Dokumente, so als sei er einem ungelösten Kapitalverbrechen auf der Spur. Schließlich begann er mit staatstragender Würde und Gelassenheit Eintragungen in einem Formular vorzunehmen. Dabei warf er immer wieder einen verstohlenen Blick auf unsere Personalausweise, als habe er Angst, dass sich diese fremde Spezies plötzlich in Luft auflösen würde. Schließlich beendete er sein Werk mit einem zufriedenen Seufzer und überreichte uns die Papiere wie eine diplomatische Note feierlich zum „countersignature”. Ein Notar hätte diesen Akt nicht würdevoller zelebrieren können. Als Stefano und ich einen Blick auf die Unterlagen warfen, konnten wir nur mit Mühe und Not ein schallendes Lachen unterdrücken. Unter der Rubrik „name“ meines Formulars stand „Johann Sebastian Bach“ und bei Stefano „Giuseppe Garibaldi“. Das waren die Namen der Straßen, in denen Stefano und ich jeweils wohnten.
Wenn in einigen Jahrhunderten zufällig Historiker diese Blätter in die Hände fallen sollten, wird man die Geschichtsbücher neu schreiben müssen. Denn dass im Jahre 1985 der berühmte deutsche Komponist und der italienische Freiheitskämpfer Old Bailey einen Besuch abstatteten, wäre eine Sensation von enormer Tragweite. Man hatte schließlich ihren Tod guten Gewissens viel früher datiert. Was die Welt aber nie erfahren wird, ist die Tatsache, dass Stefano und ich dann einen nicht unwesentlichen Teil dazu beitragen haben, die Weltgeschichte zu verändern.
Nachtrag: Dem Hausherrn meiner Gastfamilie schickte ich nach meiner Rückkehr eine besonders kitschige Postkarte mit dem Heidelberger Schloss und bedankte mich artig für die liebenswerte Betreuung und Gastfreundschaft. Ich ließ nicht unerwähnt, wie wohl ich mich in seiner Unterkunft gefühlt habe. Das Frühstück, das er mir jeden Morgen höchst persönlich zubereitet und mit der Professionalität eines Butlers überreicht hatte, wollte ich lieber nicht erwähnen, geschweige denn loben, sonst hätte ich ganz gegen meine Art und Erziehung schamlos lügen müssen. Seine lakonische Antwort lautete, dass meine Karte „very tastful“ und ich für einen Deutschen gar kein so übler Gast und Zeitgenosse gewesen sei. Nach langen Überlegungen und zähem inneren Kampf, rang ich mir den Entschluss ab, dass dies wahrscheinlich das höchste Lob eines Engländers war, das er einem „damn German“ zugestehen konnte.
Noch ein Nachtrag: Bei dem Strafprozess, den wir besuchen durften, handelte es sich um den Bombenanschlag auf die damalige Premierministerin Marget Thatcher im Grand Hotel von Brighton im Oktober 1984, bei dem fünf Mitglieder der Regierung ums Leben kamen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Nur soviel: Wir, Johann Sebastian Bach und Giuseppe Garibaldi, saßen inmitten der Gruppe von Angehörigen und Freunden des Attentäters…
So schnell kann’s gehen:
Schnelle Berühmtheit schützt nicht vor der falschen Sitzecke.
Toll geschrieben, lieber Ralph. Ein Buch von Dir wäre lesenswert.