Als ich heute in der RNZ den Artikel „Schöner streiten“ des von mir verehrten und bewunderten Verfassers der ECKE, Manfred Fritz, mit großem Interesse las, wurde ich an viele Gespräche, manchmal auch hitzige und kontroverse Diskussionen, mit meinem Vater erinnert.
Mein Vater war bekennender Verfechter einer gepflegten Streitkultur. Er war der Meinung, dass man bei einem sachlich geführten Streitgespräch stets von den Argumenten der „Gegenseite“ profitieren und neue Gesichtspunkte erkennen könne. Er verglich ein Wortgefecht etwas martialisch mit einem Florettgefecht, das aber auf Augenhöhe und fair ausgefochten werden müsse. Der anderen Seite sollte immer Zeit für Gegenargumente gegeben werden und die Behauptungen durften nicht beleidigend oder polemisch sein. Danach reicht man sich in Gedanken die Hände und war weder nachtragend noch beleidigt. Er betrachtete das Ganze wie einen sportlichen Wettkampf, bei dem aber beide Seiten gewinnen konnten.
Ich hatte auch einige Mal die Gelegenheit mich mit ihm zu „messen“ – vor allen Dingen im Halbstarken-Alter und einer gewissen Trotzphase. Es war ein ungleicher Box-Kampf zwischen Schwer- und Superleichtgewicht. Ich war hoffnungslos unterlegen, trotzdem versuchte ich den einen oder anderen Punkt für mich zu gewinnen. Mein Vater entschied die „Duelle“ souverän für sich, war aber nie oberlehrerhaft oder arrogant. Er schlug mich auch nicht knockout, sondern begnügte sich mit einem eindeutigen Punktsieg, um bei der Boxersprache zu bleiben. Er ließ mich mein Gesicht wahren, was ich aber erst viele viele Jahre später kapierte. Heute nach vielen Jahrzehnten habe ich erst richtig verstanden, dass er mich durch seine Geistesblitze und messerscharfen Analysen zu einem Menschen geformt hatte, der Respekt vor den Meinungen seiner Mitmenschen hat, solange sie nicht menschenverachtend und beleidigend sind. Ich vermisse diese Gespräche, die eigentlich gar keine Streitgespräche waren, sondern eher die Vorbereitung auf das reale Leben. Ich habe nie die Qualität seiner geistigen Finten und Hiebe erreicht, aber durch ihn wenigstens die einfachsten Regeln verstanden.
Es macht mich aber maßlos wütend, wenn ich sehe, wie heute in den sogenannten digitalen Netzwerken anarchische Zustände, ohne Regeln, ohne Anstand, ohne Ehrgefühl herrschen. Es ist für mich unverständlich, dass hier ein Tummelplatz der gemeinen Beleidigungen, ungezügelten Hasstiraden und unverhohlenen Drohungen vom Gesetzgeber zugelassen wird. Die Attacken erfolgen anonym und feige, ohne die geringste Chance auf Verteidigung oder Widerrede.
Mein Vater würde resignierend das imaginäre Florett weglegen und die Boxhandschuhe ausziehen …
PS. Manfred Fritz hat die Besprechung des Buches „Streitlust und Streitkunst“ (Herausgeben von Stephan Russ-Mohl) so anschaulich und interessant verfasst, dass dieses Werk mit großer Wahrscheinlichkeit demnächst in meinen Bücherregalen landen wird.
Lieber Herr Fischer,
ich beglückwünsche Sie zu einem so lebensklugen Lehrer wie ihrem Vater, dessen hohe Streitkunst Sie so zutreffend und richtig beschrieben haben. Davon bräuchten wir viel mehr. Vielleicht wird es ja mal wahr, dass die fatale Praxis im Netz mit rechtsstaatlichen Mitteln beendet wird, dass es dort einen rechtsfreien Raum gibt, wo Menschen ihre Gemeinheiten aus der untersten Schublade einer schlechten Erziehung abladen. Oder wo Trolle und Bots Menschen manipulieren. Das ist der Grund, warum ich mich dort nicht aufhalte. Und es werden immer mehr. Denn niemand, der bei Trost ist, würde einem anderen das ins Gesicht sagen, was im Netz an Bosheiten und häufig strafrechtlich relevanten Beleidigungen verabreicht wird. Eine Diskussion ohne die Bereitschaft, vom Gegenüber etwas anzunehmen, ihm unter allen Umständen seine Würde zu lassen, vergiftet den Diskurs – und unsere Demokratie. Ds ist wahr. Deshalb lag mir daran, die Arbeit von Russ-Mohl auch den Lesern der RNZ etwas näher zu bringen.
Herzlich
Manfred Fritz